Corona und dessen Auswirkungen auf das Alltagsleben, Spielen und Bewegen von Kindern

Zusammenfassung eines Vortrags von Carlos Neto, Professor an der Fakultät für Menschliche Bewegungslehre an der Universität Lissabon

Ein Fachbeitrag im Rahmen der Child in the City Conference im Mai 2022 von Kristina Nauditt

Professor Carlos Neto widmet sich der Problematik des Bewegungsmangels junger Menschen während der Covid-19-Pandemie, erklärt, weshalb Spielen und Bewegung für die Entwicklung von Kindern fundamental ist und was das für die Straßen und Städte als "Zukunftsorte" bedeutet.

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Hintergrund

Die Covid-19-Pandemie stellt nicht nur die Welt der Erwachsenen vor neue Herausforderungen, sondern auch die der Kinder. Lockdowns, das Ausbleiben von Aktivitäten wie Sportkursen und die steigende Anzahl an Stunden vor dem Bildschirm verschärfen die Problematik des Bewegungsmangels junger Menschen. In einem Vortrag auf der Child in the City Conference in Cascais widmet sich der Professor an der Fakultät für Menschliche Bewegungslehre an der Universität Lissabon Carlos Neto diesem besorgniserregenden Phänomen und erklärt, weshalb Spielen und Bewegung für die Entwicklung von Kindern fundamental ist.

In solch unsicheren Zeiten ist es unabdingbar, Kindern die Möglichkeit zu geben, Straßen und Städte für ihr Spiel und ihre Aktivitäten zu nutzen. Dabei gilt es die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu bewältigen:

  • die sitzende Spiel- und Arbeitskultur,
  • das Essverhalten,
  • die steigende Bevölkerungsdichte und der Straßenverkehr,
  • das Bedürfnis nach umfassender Sicherheit der Kinder,
  • die Zeitplanung mit vielen eng strukturierten Terminen,
  • wenig Kontakt mit der Natur und dem Freiland,
  • die physische Untätigkeit und das Übergewicht von Kindern

Rückgang von Zeit zum Spielen in der Corona-Pandemie

All diese Einflüsse führen zu einem besorgniserregenden Rückgang von Zeit zum Spielen und verursachen die Zunahme von mental-psychischen Störungen bei jungen Menschen. Der sitzende Lifestyle, die Abhängigkeit von digitalen Medien und der Mangel an sozialen Kontakten wurde durch die Corona-Pandemie noch verstärkt. Die Möglichkeit den öffentlichen Raum und die Natur zu nutzen, wurde hingegen stark eingeschränkt. All diese Veränderungen hatten negative Auswirkungen auf die Lebenssituation von Kindern: Die psychischen Folgen waren immens. Das durchschnittliche Körpergewicht ist überproportional angestiegen. Dies führt wiederum zu einem verifizierbaren Rückgang der motorischen Fähigkeiten bei Kindern. Außerdem hatte das Erleben von Einsamkeit einen Rückgang des Selbstwertgefühls und der Selbstwahrnehmung zur Folge. Hinzu kam die dauerhaft schwelende Angst vor der Pandemie und der Ansteckung, die sich stark auch auf das Spielen und die Bewegungsfreiheit auswirkte. Ein motivierendes Umfeld fehlte, um eine lebendige Kindheit zu begleiten und zu bereichern. Diese beschriebene Gesamtsituation wurde durch den Lockdown noch verschärft. In Studien konnte der Rückgang der motorischen Fähigkeiten von Kindern in Portugal im Lockdown nachgewiesen werden.


Die Bedeutsamkeit einer spielerischen und motorischen Kultur

Prof. Carlos Neto verweist zusätzlich auf den direkten Zusammenhang zwischen der Ausweitung der digitalen Kultur und dem Rückgang der spielerischen und motorischen Kultur - je mehr Zeit die Kinder mit Technologien verbringen, umso weniger Zeit haben sie zum Spielen auf der Straße. Dies hat enorme Auswirkungen auf die Körperhaltung und somit auch auf die Gehirnaktivitäten, vor allem weil Kinder durch Spielen lernen und sich so weiter entwickeln können. Durch das aktive Sein und Spielen wird die Lernfähigkeit gesteigert und die Fähigkeit, Selbstschutz zu erlernen, nimmt in gleichem Maße zu. Bei mangelnden Spielerfahrungen wird die Steuerung eigener Emotionen verlernt, ebenso der Aufbau von Beziehungen, die Entwicklung des Selbstbewusstseins und des kognitiven Wissens. Spielen und Aktiv-Sein fördert die kreativen Fähigkeiten so wie die Anpassungsfähigkeit, denn auch diese müssen trainiert werden. Hinzu kommt die Problematik, dass genau diese Fähigkeiten von unseren zukünftigen Tätigkeiten und Arbeitsplätzen gefordert werden. Arbeit in der Zukunft wird davon geprägt sein, komplexe Probleme zu lösen, kritisch zu denken, kreativ zu sein, Teams motivieren zu können und über große kommunikative Fähigkeiten zu verfügen. Hierfür wäre eine Kindheit förderlich, die Spielen unterstützt, also grobes, raues Spiel, mit viel Durcheinander, mit Kampf und Verfolgungen und gejagt werden.


Kinder als Forscher_innen, Künstler_innen und Spielspezialist_innen

Es braucht- so Prof. Neto - Schulen mit neuen, angemessenen Modellen für Lehre und Lernen sowie Familien, die Aktivitäten und Austausch fördern und sehr viel mehr Zeit und Platz zum freien Spiel lassen. Die Gesellschaft brauche eine ökologische und menschlich ausgerichtete Politik für den öffentlichen Raum. Es braucht folglich Innenräume die Kooperation fördern, Problemlösungssuche begünstigen, Kommunikation und kritisches Denken unterstützen. Ebenso benötigt der öffentliche Raum Rückzugsorte für Bildungsprojekte. Für gute Bildung sind urbane Orte, in denen in Gemeinschaft gelernt wird, und ein Umfeld in der Natur notwendig. Erforderlich ist ein Ansatz, der durch Bewegung lernen lässt und nicht „nur“ mit dem Kopf. Die Kinder müssen gefördert werden als Forscher_innen, Künstler_innen und Spielspezialist_innen. Es macht einen immer froh, Spuren von glücklichen Kindern entdecken zu können. Befreit Kinder davon, sitzen und leise sein zu müssen, lasst sie frei spielen und erlaubt ihnen mehr Risiken. Kinder sollten nicht überbehütet werden, frei sein von den Ängsten der Erwachsenen. Sie müssen ihren Spieltrieb ausleben dürfen. Es darf keine überstrukturierten Pläne mehr geben, viel mehr Partizipation und keinen Autonomieverlust. Stattdessen braucht es Bewegungsfreiheit und -möglichkeiten.


Städte als gemeinschaftliche Zukunfts- und Lernorte für Kinder

Prof. Neto appelliert vehement dafür, Straßen und Städte neu zu erfinden und sie als Zukunftsort für Kinder mit ästhetischer Würde, beteiligtenorientierten Dynamiken und Aktionsmöglichkeiten zu denken. Laut Luis Manuel Pinto sind die Bedingungen hierfür, dass Erwachsene nicht mehr für Kinder handeln, sondern mit ihnen. Kinder und Erwachsene sollten gemeinsam empowert werden, um alle Beteiligten einer Gesellschaft in die Zukunftsgestaltung zu involvieren. Schulen, Familien und Organisationen brauchen eine Gemeinschaft, um sich entwickeln zu können. Handwerkzeug und Methoden müssen darauf abgestimmt werden, dass Lernen partnerschaftlich für alle Generationen gemeinsam möglich ist. Hierfür müssen Räume für freies, offenes Spielen bereitgestellt werden, denn Kinder sind Spezialist_innen für Raum. Vor diesem Hintergrund müssen auch Spielplätze veränderbar und wandelbar sein. Im 2022 von der UNESCO veröffentlichten Report „Reimagining our futures together. A new social contract for education“[1] werden Dimensionen der Veränderung definiert, um im Kontext der Bildung zukunftsfähige Konzepte zu entwickeln. Als Grundlage nennen die Autor_innen Multistakeholder-Dialoge, bei denen das ganze System gemeinsam an der Entwicklung von Lösungsvorschlägen für eine veränderte Bildung arbeiten und dabei eine Pädagogik der Solidarität und Kooperation formen, die Empathie fördert und Leidenschaft für eine gemeinsame Zukunft befördert. Die Dialoge müssen darauf fußen, Individuen zum gemeinsamen Arbeiten und Denken zu erziehen. In diesem Ansatz ist Lernen geprägt von Beziehungen zwischen Lehrenden und Studierenden, die über die Grenzen herkömmlicher Klassenräume und Generationen hinausgehen. Lehre sollte geprägt sein von solidarischem Gruppenfeedback, projektorientiertem Arbeiten, der Problemlösungssuche und auf Forschung basierendem Lernen. In das Lernen sollten auch Eltern und Freund_innen einbezogen werden, in dialogfördernden Räumen.[2] Ganz im Sinne Kurt Lewins, der schon in den 40er Jahren untersuchte, „welche Rahmenbedingungen notwendig sind, damit das Beste im Menschen hervorkommen kann, und wie ein demokratischer Raum aussehen müsste, in dem Faschismus nicht mehr vorkommen kann.“[3]


Kommunen als Orte des Lernens, der Bewegung und der generationenübergreifenden Kreativität

Für unsere Städte und Kommunen bedeutet das, den öffentlichen Raum so zu gestalten, dass er vielfältige Lernorte bietet, in denen sich generationenübergreifend Kreativität und Erneuerung entwickeln können. Raum zum freien Spiel in der Schule und im Elternhaus ist hierfür die Gelingensbedingung.[4] Gemäß Hochrechnungen der Vereinten Nationen werden bis 2035 zwei Drittel der Weltbevölkerung in städtischem Gebiet leben.[5] Der Handlungsbedarf ist folglich enorm. Ein konkretes Beispiel für eine kindgerechte Umgestaltung der Innenstadt bietet beispielsweise die Kinderfreundliche Kommune Beeskow mit einem Sandkasten auf dem Marktplatz.[6]

Außerdem bietet das von UNICEF 2020 herausgegebene Handbuch „Planung und Gestaltung von kinderfreundlichen Lebensräumen. Grundlage, Checklisten, Fallbeispiele“ eine gute Einführung in das, was Kommunen heute tun müssen, um das Morgen zu gestalten. Einen guten Überblick über die gestalterischen und strukturbezogenen Qualitätskriterien, an denen sich kinderfreundliche Lebensräume orientieren sollten, bieten diese beiden Landkarten aus dem Handbuch[7]:

(in besserer Qualität unten zum Download verfügbar)

Autorin: Kristina Nauditt, Diplomabsolventin der Politikwissenschaften und Referentin bei Kinderfreundliche Kommunen e.V.

 


[1]United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (2021): Reimagining our futures together. A new social contract for education. Paris: UNESCO, unter: https://www.un-ilibrary.org/content/books/9789210012102/read (abgerufen am 17.08.2022).

[2] United Nations Educational, Scientific and Cultural Organization (2021): Reimagining our futures together. A new social contract for education. Paris: UNESCO, S. 161 ff., unter: https://www.un-ilibrary.org/content/books/9789210012102/read (abgerufen am 17.08.2022).

[3] Nauditt, Kristina; Wermerskirch, Gerd (2019): Radikal beteiligen. 30 Erfolgskriterien und Gedanken zur Vertiefung Demokratischen Handelns. Gevelsberg: EHP Edition Humanistische Psychologie, S. 16.

[4] Veiga, Guida; Neto, Carlos; Rieffe, Carolien (2016): Preschoolers' free play – connections with emotional and social functioning. In: The International Journal of Emotional Education. Special Issue Volume 8, Number 1, April, S. 48 – 62.

[5]UNICEF (2020): Planung und Gestaltung von kinderfreundlichen Lebensräumen, unter: https://www.unicef.ch/de/ueber-unicef/aktuell/news/2020-05-04/neues-handbuch-kinderfreundliche-lebensraume-richtig-planen (abgerufen am 17.08.2022).

[6]Mallwitz, Gudrun (15.07.2022): Bürgermeister: Mit dem Sandkasten Innenstadt belebt. In: KOMMUNAL, unter: https://kommunal.de/sandkasten-innenstadt-belebt-beeskow?utm_medium=email&utm_source=newsletter&utm_campaign=20220721 (abgerufen am 17.08.2022).

[7]UNICEF (2020): Planung und Gestaltung von kinderfreundlichen Lebensräumen. S. 44 - 45; S. 50 - 51, unter: https://www.unicef.ch/de/media/1500/download?attachment= (abgerufen am 17.08.2022).