Analoge Welt vs. Cyberspace

Ein Fachbeitrag von Oggi Enderlein

Ein Smartphone ersetzt das Erleben

Jedes Jahr werden auf der Spielwarenmesse neue Produkte vorgestellt, von denen die Entwickler hoffen, dass Kinder sie unbedingt haben möchten, oder dass die verantwortlichen Erwachsenen sie aus pädagogischen Gründen kaufen werden. Die Frage ist, ob die angebotenen Spielsachen wirklich die Belange der Kinder betreffen.

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Dieses Jahr gibt es auf der Spielwarenmesse eine Art elektrisches Go-Cart, das per Smartphone gesteuert wird. Das ist für Kinder im Grundschulalter natürlich wahnsinnig spannend. Die Frage ist, wie lange? Es ist vorhersehbar, dass dieses Gefährt bald seinen Reiz verliert, weil es einige wichtige Grunderfahrungen nicht ermöglicht, die Kinder im Spiel suchen: Weil sie nicht treten sondern nur mit Fingerbewegungen steuern, fehlt die wunderbare Erfahrung, aus eigener Kraft etwas erreichen und bewirken zu können. Der automatische Antrieb vermindert den Reiz sich immer neuen, schwereren Herausforderungen zu stellen. Durch mehr Kraftaufwand die größere Steigung zu nehmen, oder schneller zu werden, sich mit anderen Kindern zu messen, die Kurventaktik zu verbessern, beim plötzlichen Bremsen nach vorn zu schleudern und eine Bremsspur zu ziehen, den Aufprall zu spüren (das mag auch mit dem elektrischen Fahrzeug funktionieren, macht aber vermutlich weniger Spaß).

  • Naturerfahrungen haben einen hohen Spielwert

In vielen selbst inszenierten Spielen, vor allem wenn sie im Freien stattfinden, begegnen Kinder physikalischen, technischen, biologischen Phänomenen. Kinder mit sinn-vollen Naturerfahrungen werden später in den naturwissenschaftlichen Fächern leichter die theoretischen Lerninhalte nachvollziehen können.

Ein digital gesteuertes Fahrzeug hat zweifellos andere Vorteile: Elektronik ist Teil der modernen Welt und Kinder wollen und müssen sich mit der Welt, in die sie hineinwachsen auseinandersetzen. Der Umgang mit digitalen Medien fördert Medienkompetenz, Feinmotorik und Konzentrationsfähigkeit. Und ein Smartphone-gesteuertes Fahrzeug vermittelt vielleicht  sogar ein Grundverständnis für autonomes Fahren.

Im Vergleich zum selbstgetretenen Fahrzeug ist der Spielwert aber auch aus Kindersicht oberflächlicher und begrenzter. Kettcars und andere Tret- und Rollfahrzeuge sind auch heute noch der Renner in Freizeiteinrichtungen, Ganztagsangeboten und Horten. Allerdings sind die Möglichkeiten zu raumgreifenden Aktivitäten in diesen Einrichtungen in der Regel begrenzt. Und der Aufenthalt in betreuten Einrichtungen hält die Kinder von der Welt außerhalb fern.

  • Kinder brauchen altersgerechte Aktionsräume

Damit entgehen aber vielen Kindern heute wesentliche Welt- und Lebenserfahrungen, die für ihre Entwicklung wichtig wären: In der Entwicklungsphase zwischen Schuleintritt und Jugendalter, (etwa 6 bis 13 Jahre) wollen und müssen sich diese „Großen Kinder“ auf den Weg machen, die Welt außerhalb des Elternhauses auf eigene Faust zu erkunden. Allein aber ist das nicht reizvoll und auch gefährlicher als zu mehreren. Die Kinder sagen aber selbst, dass ihnen altersgerechte Aktionsräume im Wohnumfeld fehlen, in denen sie sich mit anderen Kindern treffen und zurückziehen können.

Bei der Frage, was sie am liebsten in ihrer Freizeit tun, geben 6- bis 13-jährige Mädchen und Jungen auch heute noch an erster Stelle an: „Rausgehen“ und „mich mit Freunden treffen“. Vor allem Mädchen können sich diese Wünsche immer seltener erfüllen: Ist Draußen-Sein aus ihrer Sicht zu gefährlich, oder gibt es „draußen“ nichts mehr, für das es sich lohnt raus zu gehen? Findet deshalb der  Austausch unter den Kindern zunehmend per Smartphone statt? Und wird die Neugierde an der Welt deshalb ersatzweise lieber im Internet gestillt?

  • Gemeinsames Spiel draußen fördert unterschiedlichste Kompetenzen

Kinder spüren offenbar genau, was ihnen gut tut. Das  gemeinsame Spiel mit Freunden, vorzugsweise draußen und an Orten, die nicht speziell für Kinder hergerichtet sind, fördert die gesamte Persönlichkeitsentwicklung: Selbst gestellte Aufgaben und Ziele regen nicht nur die Kreativität und Eigenverantwortlichkeit an. Sie fordern Problemlösekompetenz, Einsatzbereitschaft, Organisationstalent, Zeitmanagement und ja, auch Risikobereitschaft. Dies sind übrigens genau die Kompetenzen, die Unternehmen heute bei Berufsanfängern häufig vermissen!

Die Umsetzung eines Planes erfordert strategisches und perspektivisches Denken. Kinder erwerben technische Grundkenntnisse und setzen sich mit naturwissenschaftlichen Phänomenen auseinander. Der selbstständige Aufenthalt im Wohnumfeld schult das Orientierungsvermögen und nebenbei führt die Begegnung mit anderen Menschen zu Menschenkenntnis. Die meisten Spiele von „Großen Kindern“ haben mit Bewegung, Geschicklichkeit, Körpererfahrung zu tun. Kinder erkunden dabei immer auch die Grenzen der körperlichen und auch der seelischen Verletzlichkeit. Das ist aus Sicht der Erwachsenen oft nicht schön. Leider sind diese Erfahrungen für die Entwicklung sozialer Kompetenzen unverzichtbar: Einfühlungsfähigkeit, Rücksichtnahme, Toleranz, Taktgefühl und Teamfähigkeit.

  • Es liegt nicht nur im Interesse der Kinder selbst, wenn Erwachsene, die für die Planung des öffentlichen Raumes verantwortlich sind, ernsthaft darüber nachdenken, wie sie wieder Räume und Gelegenheiten schaffen, mit denen sich speziell „Große Kinder“ in einem einigermaßen sicheren Rahmen  treffen, zurückziehen und aktiv sein können, ohne unmittelbar von Erwachsenen angeleitet und beaufsichtigt zu werden.

Autorin
Oggi Enderlein, geboren 1947 in Bogotá, ist Diplom-Psychologin, Entwicklungspsychologin und engagiert sich als Dozentin, Coach und Autorin schwerpunktmäßig für die altersspezifischen Belange und Rechte von „Großen Kindern“ (ca. 6- bis 13-Jährige) in Schule, Ganztageseinrichtungen und Kommune. Sie ist Mitbegründerin und Vorstand der „Initiative für Große Kinder“ e.V. Kleinmachnow, Mitglied im Bundesjugendkuratorium und Sachverständige für Kinderfreundliche Kommunen e.V.