Raumorientierung bei Kindern

Wie Pfade integriert und Kommunen bewegt kinderfreundlicher werden

Ein Fachbeitrag von Prof. Dr. Rolf Schwarz

Orientieren im Raum ist eine überlebensnotwendige Kompetenz. Bewegungsförderung spielt bei ihrem Erwerb eine elementare Rolle und wird nur dann kinderfreundlich, wenn neben dem subjektiven Verhalten auch die umgebenden Verhältnisse in einer Kommune stimmen. Die besonders Kita-Kindern zu eigene, als „Pfadintegration“ bezeichnete, Orientierung im Raum ist die notwendige Entwicklungsgrundlage für kompetente Raumorientierung. Dieser Prozess ist erschwert, wenn Kommunen zunehmend motorisiert, verbaut und zergliedert sind.

  • Passives Mobilitätsverhalten hemmt die Raumorientierung

Stellen Sie sich einmal folgendes Szenario vor: Sie wollen in der benachbarten Großstadt einkaufen gehen. Davor aber bringen Sie Ihr Kind – weil es passender Weise auf dem Weg liegt – mit dem Auto in die Kita. Als jüngst zertifizierte „Kinderfreundliche Kommune“ regelt die von ihnen besuchte Einkaufsstadt das Parkrecht aber überraschender Weise mittlerweile so, dass Sie Ihr Auto draußen vor dem Stadtkern bzw. der Altstadt stehen lassen müssen und gehen nun ganz ungewohnt zu Fuß einkaufen; etwas, was Sie als Erwachsener quasi schon seit Jahren nicht mehr gemacht haben. Die Umgebung erscheint Ihnen aus dieser Perspektive geradezu unbekannt und Sie finden nur mit Mühe Ihr Einkaufsziel. Als Sie fertig sind und das Geschäft verlassen, bekommen Sie einen riesigen Schreck: Wo steht mein Auto? Da Sie sich weder die Straße Ihres Parkplatzes noch die Umgebung gemerkt haben, fehlt Ihnen sowohl eine feste Landmarke als auch eine exakte Koordinate, weshalb Ihnen nun das Handy als künstliche Kartenhilfe auch nichts bringt. Was Sie jetzt bräuchten, ist ein Kompass …

 

  • Pfadintegration – evolutionäres Raumlernen

Fühlen Sie sich ertappt? Und falls nein, kennen Sie sicherlich jemanden, dem dies schon mal passiert ist. Doch keine Sorge, denn diesen Kompass gibt es tatsächlich. Den müssen Sie sich nicht einmal kaufen; er wohnt in ihrem Körper und Sie müssen ihn lediglich aktivieren und trainieren und Sie werden keine Karte, weder in Papierformat noch als Handy, für das Finden des Rückweges benötigen. Was sich geradezu unglaublich anhört, ist das Ergebnis einer Millionen Jahre langen Evolution mobiler Lebewesen und nennt sich Pfadintegration (Mittelstaedt & Mittelstaedt, 1980). Sobald sich Menschen räumlich in Bewegung setzen, erfolgt eine ständige Aktualisierung von wichtigen Raumparametern wie die Geschwindigkeit, Richtung und Entfernung sowie die Lage (Gleichgewicht, Stellung der Körperteile) des eigenen Körpers. Das ist sehr wichtig, weil Sie sich ohne diese Daten entweder verirren oder möglicher Weise einen Unfall bauen würden. Bezogen werden diese Informationen auf den Startpunkt der Fortbewegung (hier: Parkplatz) und mit Blick auf ein zu findendes Ziel (hier: Einkaufsladen). D. h. der Organismus verortet sich als Körper relativ (!) zwischen Start- und Zielpunkt. Das Gehirn kann nun selbst an unbekannten Orten auch ohne Karte, sprich nur mit einem Kompass, navigieren, indem die Strecke direkt und quasi auf dem Weg über die Eigenbewegung mithilfe bestimmter Bereiche des Gehirns (besonders der mediale entorhinale Kortex und der Hippocampus) neuronal integriert wird. Selbst Ameisen oder Vögel finden so mit einer 10-prozentigen Fehlertoleranz nahezu direkt nach Hause zurück. Zurück bleibt in Ihrem Gehirn eine kleine Minikarte dieses leicht abenteuerlichen Ausfluges, also einer Exploration. Und wenn Sie das nur oft genug machen, entstehen in Ihrem Gehirn sehr, sehr viele Karten, die zusammengefasst eine großräumige, man sagt allozentrische Überblickskarte bilden. Dieses innere, multisensorisch über Bewegung angelegte Raumkörpergedächtnis ist bei entsprechender Häufigkeit und Intensität der Anwendung so gut, dass es im Zweifelsfall sogar ohne Sonne (bei Wolken), ohne Mond und Sterne (bei Tag), Magnetfelder oder Gezeitenchronometer (dafür haben wir gar nicht die Sinnesorgane) und so mit den fünf in der Natur vorkommenden Kompassen vieler anderer Lebewesen funktioniert.

 

  • Pfadintegration läuft bei Kindern nebenbei

Das Tolle daran: Pfadintegration verläuft bei Kindern wahrscheinlich meist intrinsisch und interozeptiv, d.h. ein sensomotorisch innewohnender Körperkompass speichert die mit der Bewegung gewonnene Rauminformation automatisch und nicht-bewusst. Pfadintegration funktioniert also grundsätzlich auch unabhängig von markanten Hinweisreizen, sogenannten Landmarken (z. B. ein Kirchturm, eine Telefonzelle, oder ein farbenprächtiger Baum), wobei letztgenannte aber sehr hilfreich sind, weil ergänzend und exakter. Die einzige Bedingung: das muss in frühester Kindheit passieren, es muss aktive Eigenbewegung sein (keine Passivmobilität), benötigt viel, gestaltbaren und explorierbaren Raum und sollte selbstbestimmt sein, also ohne ständigen Begleitschutz der Eltern. Alles ganz einfach? Tja, wäre da bloß nicht das eigene Kind, das man just heute Morgen mit dem Auto zur Kita gebracht hat…

 

  • Kommunale Verhältnisse verhindern kindliche Pfadintegration

Bei vielen Eltern und auch Kommunen besteht das kapitale Missverständnis, dass Kinder, raumpsychologisch betrachtet, noch nicht in der Lage seien, vor der Grundschulzeit am modernen Straßenverkehr teilzunehmen (Schröder, 2020). Der Denkfehler liegt darin, dass Kinder sich dem Straßenverkehr anpassen sollen (Verkehrserziehung). Das hat aber weder mit dem Inklusionsgedanken noch mit dem modernen Verständnis von Mobilitätsbildung zu tun. Bei Letztgenannten geht es nämlich darum, wie sich auch die Umwelt, d.h. die Verhältnisse, ändern muss, damit Kinder mit ihren entwicklungstypischen Möglichkeiten und Grenzen sich optimal entwickeln können. Mittlerweile weiß man, dass sich Kinder bereits ab einem Alter von ca. 3 Jahren erfolgreich im Großraum sicher bewegen(also sich in Richtungen zurechtfinden können), wenn die Umweltbedingungen entsprechend kinderfreundlich sind. Doch zunehmende Überbauung durch Nachverdichtung, damit wegfallende grüne Restflächen (natürliche Spielplätze!), Zerschneidung durch motorisierten Verkehr, Überprotektionismus von Eltern und fehlendes Fachwissen von Verkehrs- und Ordnungsämtern sorgen nicht für eine „pfadintegrations“freundliche Umwelt. Doch Menschen sind nicht für den Verkehr da, sondern der Verkehr für die Menschen.

 

  • Raumorientierung kinderfreundlich fördern – wissenschaftliche Empfehlungen

Fasst man die profunden Ergebnisse erfolgreicher Entwicklung (früh-)kindlicher Raumorientierung für Pädagog_innen, Eltern und auch die Politik zusammen (Schwarz, 2020), gilt es Folgendes zu beachten:

  • Kinder müssen sich so früh (lange vor der Grundschule) und täglich so lange wie möglich (mindestens 30 Min., besser zwei Stunden) frei und selbstbestimmt bewegen dürfen; am besten draußen. Dies hilft, die natürliche Neugier zu befriedigen und aus vielen Minikarten kleiner Einzelräume komplexe wie flexible, innere, kognitive Großkarten aufzubauen („mental maps“).
  • Natürliches Orientieren verläuft verschlungen (mäandrierend) vom Nahraum zum Fernraum. Kinder brauchen deshalb sichere und spannende Verbindungskorridore zugleich. Weil die zunehmende Zerschneidung kinderfeindlich ist, müssen Stadtplanende Wohnquartiere besser miteinander verzahnen, und zwar mit grünen, für aktive Mobilität zugänglichen Pfaden.
  • Räume müssen gestaltbar und manipulierbar sein, da Kinder durch die selbstgesteuerte Veränderung die Umwelt als ihren Lebensraum („Wohnzimmer im Freien“) betrachten. Das schafft eine höhere Verbundenheit (Identifikation) mit „ihrer“ Umwelt und dadurch eine leichtere Orientierung. Gesetzlich gilt es, die weitere Nachverdichtung um jeden Preis zu verhindern. Stattdessen braucht es gesetzlich verankerte, ausreichende Grünflächen direkt im nahen Wohnumfeld. Ein Kind-m²-Verhältnis (Ratio) von 15 m² ist das absolute Minimum. Die Stadt Regensburg legt in ihrem Freiraumentwicklungskonzept für die Gesamtstadt sogar einen Zielkennwert von 20 m2 Grünfläche pro Einwohner fest.
  • (Teil-)Gelenkte Impulse („Probier das mal …“) dürfen von Eltern und/oder Pädagogischen Fachkräften auch sein, sie sollten sich aber so lange zurückhalten, wie es das Kind selbst nicht schafft, sich im Raum zurechtzufinden. Gleichzeitig lernen sie über selbst bewältigte Risikosituationen Mut und Selbstvertrauen zu erwerben.
  • Erlaubnis und Selbstvertrauen sind die besten Voraussetzungen für Exploration. Pfadintegration verläuft optimal über neue, noch unbegangene Wege, die eigenverantwortlich aufgesucht und bewältigt werden wollen. Insbesondere scheinen Mädchen zu profitieren, deren Raumkognition dadurch im Wortsinne erweitert wird, d.h. es entwickelt sich bei ihnen mehr großräumiges Richtungsdenken statt nur orientierungsängstliches Denken in stabilen Landmarken.
  • Das bewusste Einnehmen verschiedener Perspektiven an Straßenkreuzungen hilft Kindern beim Rückweg z. B. von einem Ausflug die genaue Richtungsentscheidung zu wählen. D.h. auf dem Hinweg sollte an Abzweigungen und Kreuzungen nach hinten und von der Seite geblickt werden, um beim späteren Rückweg die neue Perspektive bereits abrufbar zu haben. Markante Punkte (Landmarken wie große Bäume, auffallende Häuser) sollten bewusst angesprochen und gemeinsam abgegangen werden, damit sie auch bewusst abrufbar sind. Verknüpft man sie zudem mit einer positiv emotionalisierten Geschichte, werden sie leichter erinnerbar.

 

Literatur

  • Mittelstaedt, M. L. & Mittelstaedt, H. (1980). Homing by path integration in a mammal Naturwissenschaften, 67(11), 566–567.
  • Schröder, R. (2020). Verkehr und Schulwegeplanung. In: Kinderfreundliche Kommune (Hrsg.), Handbuch „Kinderrechte kommunal verwirklichen“ (n.n. veröffentlicht).
  • Schwarz. R. (2020; in Druck). Orientieren im Raum – Navigationslernen bei Kindern durch explorative Bewegung fördern. In G. Lang-Wojtasik & S. König (Hrsg.). Lernen fördern in KiTa und Schule. Ulm/Münster: Klemm & Oelschläger.
  • Stadt Regensburg (2020) Vorlage – VO/19/16258/61

 

Autor

Prof. Dr. Rolf Schwarz ist Lehrstuhlinhaber für Kindliche Bewegungsentwicklung, ihre Diagnostik und Intervention an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe sowie Mitglied im Sprecherrat der dvs-Kommission „Sport und Raum“.